Nachrichtenartikel 04.06.2024

Aufbau eines Smart Grid – Was Deutschland von Skandinavien lernen kann

Carlo Lazar, Smart Grid-Experte, Aidon, Jyväskylä (Finnland)

Netzpraxis, Magazin für Energieversorgung, Mai 2024

Wie kann das deutsche Stromnetz so intelligent werden wie es in Skandinavien bereits ist? Da der aktuelle Status des Rollouts von Smart Metern hierzulande eher schleppend verläuft, hat der Regulator mit dem Paragraf 14a versucht, eine Beschleunigung herbeizuführen. Um das vorgesehene Monitoring des Niederspannungsnetzes nun aber zeitnah und mit überschaubarem Aufwand umzusetzen, sollten Verteilnetzbetreiber zunächst die Ortsnetzstationen ins Visier nehmen. Diese lassen sich mit modernen Lösungen auf der Basis der existierenden Technik schnell zu Lieferanten von Echtzeitdaten über den Netzzustand im Verteilnetz aufrüsten.

Der Strommarkt in Skandinavien weist im Vergleich zu dem in Deutschland einige erhebliche Un­terschiede auf. Diese liegen vor allem im Bereich der Erzeugung. Während in Deutschland bekanntermaßen die Kernkraft nicht mehr existiert und die Wasserkraft eine nur untergeordnete Rolle spielt, liegt der Schwerpunkt mit dem Auslaufen fossiler Energieträger inzwischen vor allem auf der Windkraft und der Photovoltaik. Das bedeutet: Das Stromnetz unterliegt immer wieder volatilen Erzeugungsschwankungen, die im Netz abgebildet werden müs­sen. Ein Stromnetz, das Erzeugung und Verbrauch über ein intelligentes Lastmanagement stabil halten kann, ist also unabdingbare Voraussetzung für die komplette Integration der re­generativen Erzeugung.

Dagegen werden in Skandinavien große Teile der Erzeugung durch die grundlastfähige Wasserkraft abge­deckt. Das gilt vor allem für Norwe­gen oder auch für Schweden. In Finnland ist die Situation etwas an­ders, da dort noch eine ganze Reihe von Kernkraftwerken betrieben wer­den. Jedoch werden auch diese Strommärkte immer stärker von Er­neuerbaren geprägt, vor allem durch die Windkraft.

Königsweg Smart Meter

Der Netzaus- und Umbau steht da­her hier wie dort vor der Herausfor­derung, Smart Grids aufzubauen. Denn auf der Verbrauchsseite steigt der Bedarf nach Strom. In Norwegen sind es vor allem die wachsende Zahl von Elektroautos, die eine intel­ligente Steuerung erfordern. Der Wärmemarkt spielt dort keine so große Rolle, wie wir ihn in Deutsch­land zu erwarten haben. Daher brauchen auch die nordischen Netz­betreiber mehr Daten, um den Zu­stand des Netzes zu messen und für die intelligente Steuerung der Las­ten.

Smart Meter gelten als Königsweg, um diese Aufgaben zu erfüllen. Und auf diesem Feld spielt Skandinavien in einer ganz anderen Liga als Deutschland. Während der Rollout von intelligenter Messtechnik in den deutschen Haushalten mehr als schleppend vorankommt, haben die nordischen Länder bei dieser Tech­nologie eine fast 100-prozentige Ab­deckung erreicht.

Aidon beschäftigt sich seit 2004 damit, das Netz intelligenter zu machen. Dadurch hat man sehr viele Erfahrungen gesammelt und vertief­te Kompetenzen beim Aufbau und Betrieb von Smart Grids erworben. Aidon ist mit Smart Metern gestartet und stellt diese Geräte seit 20 Jahren her. Dann hat das finnische Unter­nehmen zunächst für den Markt in Norwegen eine Lösung entwickelt, um die Ortsnetzstationen, die Trans­formatoren für den Anschluss des Niederspannungsnetzes an das Mit­telspannungsnetz, mit intelligenter, digitaler Messtechnik aufzurüsten.

Detaillierte Daten auch über die Stromqualität

Die dortigen Verteilnetzbetreiber wollten mehr darüber wissen, wie­viel Strom durch diese Stationen konkret fließt, wie viel diese selbst verbrauchen und wie sich die Situa­tion auf der Nachfrageseite bei den Endkonsumenten darstellt. Die zen­trale Frage war, wie groß die Verluste in diesen Stationen sind. Meistens war das alles im Rahmen, aber es gab eben Fälle, da waren die Verbin­dungen falsch geschaltet. Das konnte dann optimiert werden.

Das war der Ausgangspunkt und das hat Aidon dann in Richtung Stromqualität weiter entwickelt. Denn wenn man sich diese Trans­formatorstationen anschaut, dann werden diese bereits in den Spitzen­zeiten bei hohem Verbrauch ge­stresst. Ist dagegen die Erzeugung erhöht, dann steht das Übertra­gungsnetz unter Stress. Diese Szena­rien kann man mit Lösungen wie der von Aidon sehr genau erfassen. Ge­liefert werden detaillierte Daten nicht nur über den Verbrauch, son­dern auch über die Stromqualität.

Volatile Erzeugung mit volatilen Preisen

Wenn man die Unterschiede der Netzstrukturen betrachtet, sind die­se gar nicht so groß. Auch in Skandi­navien gibt es viele unterschiedliche Verteilnetzbetreiber, in Finnland sind es etwa 80, in ganz Skandina­vien 400, während es in Deutschland über 800 sind. Allerdings steht man im Norden vor der Situation, dass es Verteilnetzbetreiber gibt, in deren Gebiet so gut wie gar keine lokale Er­zeugung stattfindet. Aber die Ten­denz zur Dezentralisierung, wie sie aktuell in Deutschland stattfindet, lässt sich teilweise auch in Skandina­vien feststellen. Das ist erwünscht. In Finnland zählt man aktuell 1600 Windkraftanlagen und weitere wer­den überall im Land errichtet. Hinzu kommt, dass es einen starken Ener­gieaustausch zwischen den Ländern gibt, etwa zwischen Finnland und Schweden.

Die Installation eines Mässgeräts an einer Transformatorstation.

Für die Verbraucher bedeutet das in Skandinavien inzwischen, dass diese sich mit erheblichen Fluktuati­onen bei den Strompreisen konfron­tiert sehen. Viele Konsumenten sind nach den erheblichen Preissteige­rungen im Zusammenhang mit der Ukrainekrise auf stündliche Tarif­modelle umgestiegen. An windrei­chen Tagen kann es sein, dass der Strom fast gratis geliefert wird. Im Gegensatz dazu, wenn es -20 Grad und kaum Wind hat, kann die Kilo­wattstunde schon mal 1 Euro kosten.

Die stark fluktuierenden Preise haben bereits zu umfangreichen politischen Debatten geführt. Denn niedrige und stabile Preise erfor­dern unweigerlich eine staatliche Subvention, während die Kopp­lung an die Spotmärkte diese star­ken Schwankungen verursacht. In Ausnahmesituationen hat das schon mal zu einem Preis von 2 Euro pro kWh geführt. Daraus hat sich allerdings eine hitzige Debatte entwickelt und es stellte sich her­aus, dass das auf einen Fehler im System der Strombörse zurückzu­führen war. Im Allgemeinen liegt der Höchstpreis bei etwa 50 Euro­cent. Die Verteilnetzbetreiber ste­hen allerdings auch in Skandinavi­en vor der Herausforderung, die Netzstabilität zu garantieren. Dafür existieren inzwischen die genannten Lösungen für intelligente Ortsnetz­stationen.

Mit Smart Metern Lasten steuern

Mit diesen Lösungen kann man sehr genaue und in Echtzeit ausgespielte lnformationen über den Status des Netzwerks und in den Verteilpunk­ten erhalten. Das erlaubt es, die Kapazitäten in den Ortsnetzstationen besser auf die Erzeugung, den Ver­brauch und den Netzzustand abzu­stimmen. Ein Anwendungsfall be­steht etwa darin, den Zustrom der ganzen dezentralen PV-Anlagen besser zu steuern. Aktuell ist es kaum möglich, in Spitzenzeiten diese An­lagen komplett in die Ortsnetzstatio­nen einspeisen zu lassen. Die deut­schen Verteilnetzbetreiber wissen teilweise gar nicht, was da in dem Moment genau passiert.

Generell muss man den Rollout von Smart Metern unter zwei Aspek­ten betrachten. Es geht einerseits um die Erfassung des Netzzustands und andererseits um die Kontrolle des Verbrauchs, also um die gegebenen­falls notwendige, punktgenaue Abregelung der Stromnachfrage, um das Netz zu stabilisieren. Das ist im Kern die Aufgabe, die der § 14a des deut­schen EnWG an die Verteilnetzbetrei­ber stellt: Die Stromlast im Bedarfsfall sehr schnell zu reduzieren, etwa über die Smart Meter den Strombedarf der Wärmepumpen zu begrenzen. Dafür muss man natürlich genau wissen, wo nun die abregelharen Verbrau­cher überhaupt stehen.

Die Lösung von Aidon ist auf jeden Fall dazu geeignet, den netzseitigen Status auf Verteilnetzebene zu erfas­sen. Die Verteilnetzbetreiber erhal­ten die entsprechenden Daten – auf­bereitet und visualisiert. Auf dieser Basis können sie automatisierte Pro­zesse entwickeln, um regelnd in das Netz einzugreifen.

Zentral ist bei dieser Lösung, dass die alten Ortsnetzstationen im Prin­zip so bleiben wie sie sind. Alle vor­handenen Installationen können wie vorhanden weiter genutzt wer­den. Es lassen sich sogar bereits ver­baute Geräte zur Datenerfassung in­tegrieren. Das betrifft etwa Sensoren von Drittanbietern, die den rein phy­sikalischen Zustand der Station an sich erfassen, beispielsweise im Hin­blick auf Überhitzung. Deren Daten werden ausgelesen und an die Ver­teilnetzbetreiber mitgeliefert. So wird das alte System in das nächste Jahrhundert gebracht, ohne dass dieses an sich umgebaut werden muss. Das ist natürlich wichtig, denn aktuell verfügen 99 % der Ortsnetz­stationen über keinerlei intelligente Funktionen.

Deutschland hinkt gewaltig hinterher

Trafolösung. Digitale Messtechnik in der Netzstation.

Ein Aspekt beim Aus- und Umbau des Stromnetzes ist überall auf der Welt gleich: Investitionen in die Netzinfrastruktur werden auf 50 Jah­re abgeschrieben. Deswegen kann man nicht erwarten, dass alles von jetzt auf gleich umgebaut sein wird, denn die Stadtwerke werden kaum Infrastruktur aussondern, die erst 20 Jahre alt ist. Deswegen benötigen sie Lösungen, um die vorhandene In­frastruktur weiter nützen zu können. Damit kann der dringend erforder­liche Umbau beschleunigt werden.

Jedoch geht die Installation von Smart Metern und Gateways bisher nur schleppend voran. Der Ausbau ist jedoch absolut erforderlich, um Strom verbrauchende Geräte wirk­lich zu kontrollieren und situations­bedingt abzuregeln. Ohne das hat man zwar die Daten, aber man kann nichts unternehmen, um die Last granular zu reduzieren und das Netz zu stabilisieren. Daher bin ich in Be­zug auf Deutschland etwas pessi­mistisch, ob die zeitlichen Vorgaben, die jetzt im Raum stehen, wirklich eingehalten werden können.

Der Gesetzgeber könnte hier den Verteilnetzbetreibern etwa mit Bußgelddrohungen etwas Beine machen, sodass die entsprechenden Investi­tionen getätigt werden. Andererseits müssen diese bereits die Installa­tions- und Anschaffungskosten der Mess-Hardware tragen, während die Verbraucher oder Gebäudeeigentümer nur einen geringen Festpreis zahlen. Aber so, wie sich die Situation aktuell darstellt, wird sich das Ziel von 2030 kaum einhalten lassen. Si­cher ist: Verteilnetzbetreiber, die al­ternative Wege zur Überwachung des Niederspannungsnetzes beschreiten, werden die Nase vorn haben.